Alle reden von Leistung. Jeder will sie, jeder Schirm hat sie angeblich, und laut Marketing natürlich mehr als alle anderen in seiner Klasse. Aber: kann ein Flügel überhaupt Leistung haben?

Was ist das eigentlich: Leistung?

Die Physik definiert Leistung als aufgewendete Arbeit (Kraft * Weg) in einer bestimmten Zeit. Beispiel: ich überwinde mit meiner Muskelkraft beim Wandern einen bestimmten Höhenunterschied in einer bestimmten Zeit. Damit erbringe ich eine definierte Leistung. Die leistet allein mein Muskelapparat, weder Schuhe noch der Rucksack haben daran direkten Anteil, wenn auch beide meine Muslelleistung bzw. deren Wirkungsgrad beeinflussen. Für dieselbe Höhendifferenz in der halben Zeit benötige ich die doppelte Leistung.

Physikalisch gesehen ist es somit irreführend, bei einem Gleitschirm oder einem sonstigen motorlosen Fluggerät von Leistung zu sprechen. Denn der Flügel hat von sich aus keine Kraft, also auch keine Leistung. Genauso wenig wie die Wanderschuhe oder ein Ruderboot.

Um mit unserem Paragleiter fliegen zu können, müssen wir erst einmal "externe" Leistung aufwenden, Leistung, die mit unserem Fluggerät nichts zu tun hat: wir überwinden mit Kraftaufwand eine Höhendifferenz, entweder per Fahrzeug, mit der Seilbahn, zu Fuß oder mit der Winde. Die Leistung dafür liefern unsere Muskeln oder Motoren.

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Und kaum sind wir in der Luft, vernichtet unser System aus Flügel, Leinen, Gurtzeug und Pilot die aufgewendete Arbeit sogar wieder. Oder vielmehr: es wandelt sie um: einiges davon löst sich in Form von Reibungswärme buchstäblich in die Luft auf, einen guten Teil davon aber verwandelt das Fluggerät in Vortrieb und damit in Strecke.

Wenn wir nunbald wieder die Energie der Sonne für unser System nutzen, in Form von Thermik oder sonstigem Aufwind, dann bleiben wir oben. Der Pilot muss dafür wiederum zusätzlich Leistung erbringen, mental und muskulär, und eben die Sonne, zum Obenbleiben braucht es davon mehr mehr als die Schwerkraft und der Widerstand unseres Fluggeräts verbrauchen. Ansonsten stehen wir bald am Boden, die anfangs aufgewendete Arbeit ist dann verbraucht und die Leistung gleich Null.

Wenn wir beim motorlosen Fliegen von Leistung sprechen, meinen wir eigentlich etwas ganz anderes: den Wirkungsgrad.

Wirkungsgrad statt Leistung

Um lange oben zu bleiben und weit zu gleiten muss das gesamte fliegende System aus Flügel, Gurtzeug und Pilot die von außen aufgewendete Leistung möglichst gut umwandeln. Das Verhältnis von aufgewendeter Leistung zum erzielten Effekt nennt sich Wirkungsgrad. Je größer also der Wirkungsgrad unseres Systems ist, je effektiver z.B. der Flügel die Schwerkraft in Vortrieb umsetzt, je besser er vertikale Luftströmungen in Höhe verwandeln kann, je weniger Energie durch Reibung vernichtet wird, je besser das Fluggerät die mentalen und physischen Leistungen des Piloten umzusetzen vermag, desto weiter, länger, höher fliegen wir.

Es kommt also allein auf den Wirkungsgrad an. Und den "hat" ein Fluggerät sehr wohl - im Gegensatz zur Leistung. Allerdings ist dieser eine sehr komplexe Größe. Neben der Konstruktion des Flügels hängt der Wirkungsgrad ganz entscheidend vom Piloten ab, von dessen Erfahrung, seinem Trainingszustand, der Tagesform usw., außerdem vom Gurtzeug, vom Gelände, meteorologischen Parametern, von Erfahrung und taktsichen Entscheidungen. Er ergibt sich erst aus dem Zusammenspiel aller dieser Einzelkomponenten.

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So entlockt z.B. ein durchschnittlich erfahrener und mäßig trainierter Pilot einem aktuellen A- oder Low-B Flügel bei rauhen Bedingungen einen viel höheren Wirkungsgrad, als mit einem C oder D-Schirm. Und ein gut trainierter Pilot wird einem High-Level B-Gerät unter vielen Bedingungen ebenso einen viel besseren Wirkungsgrad ermöglichen, als einem Wettkampfschirm.

Zwar mag der HighEnd D- oder gar CCC-Flügel von einem Spizenpiloten aktiv geflogen Höhe effektiver in Strecke verwandeln als das Low-Level B Gerät, stellt aber extrem viel höhere Anfoderungen an mentale und physische Kondition sowie an intuitives und schnelles Reagieren. Entspannt fliegt es sich länger und schöner und wer länger fliegt kommt auch beim Streckenfliegen meist weiter.

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Leistung durch Training

Wie in allen anderen Sportarten resultiert auch beim Gleitschirmfliegen das Leistungsvermögen vor allem aus Training. Ein wenig Talent und das passende (!) Sportgerät unterstützen dabei. Passend heißt hier: ich sollte so gut trainiert und erfahren sein, dass ich die theoretischen Möglichkeiten meines Fluggeräts auch praktisch nutzen kann. Ein wenig Herausforderung darf dabei ruhig bleiben...

Das Tagesergebnis und die Flugfreude resultieren schließlich aus dem komplexen gesamt- Wirkungsgrad des Systems. Am weitesten fliegt, wer mit seinem Gerät am längsten gut zurecht kommt. Und oben bleibt. Wie viele Pilot*innen mit großen Streckenflügen schon eindrücklich bewiesen haben. Und das ist wirklich eine Leistung. Die Leistung von Pilot*in und Sonnenenergie, umgesetzt durch einen guten Wirkungsgrad.

Die beste Gesamtleistung erreiche ich also als Pilot*in, wenn mein Fluggerät mit all seinen Einzelkomponenten gut zu meinen persönlichen Vorausstzungen und Möglichkeiten passt. Dann gibt es bei passenden Bedingungen auch Thermikstunden und Streckenkilometer, vor allem aber Flugfreude. Und ganz persönlich bin ich am Ende des Tages lieber ein Freudentänzer als Punktekönig.

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